Samstag, 27. Oktober 2012

Joanne K. Rowling "Ein plötzlicher Todesfall"


Joanne K. Rowling "Ein plötzlicher Todesfall"
Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2012
€ 24,90

Einleitend gestehe ich, dass ich das Buch voreingenommen zur Hand genommen habe, denn den Harry-Potter-Hype hatte ich keinesfalls geteilt. Und dass ich einen 575 starken Wälzer auspackte, setzte mich schon etwas in Erstaunen. Aber Angst vor dicken Büchern kenne ich nicht, also stürzte ich mich ins Abenteuer Lesen.
Es war kolportiert worden, „Ein plötzlicher Todesfall“ wäre ein Kriminalroman; dass dem nicht so ist, dämmerte mir erstmals nach etwa 100 Seiten. Der Mann, um den sich die ganze Handlung in gewisser Weise rankt, Barry Fairbrother, stirbt zwar mit Anfang vierzig auf den ersten Seiten, jedoch eines natürlichen Todes. Damit hat die Autorin den einzigen „Guten“ (nur seine Frau sieht das anders – sie wirft ihm auch im Tod noch vor, dass er sich zu viel um andere und zu wenig um sie gekümmert hat) aus dem Weg geräumt und kann bei der naturalistischen Schilderung ihrer Geschöpfe in die Vollen gehen.
Nach der Lektüre von „Ein plötzlicher Todesfall“ sollte man vom Klischee „Kleinstadtidylle“ geheilt sein. Pagford, wo sich der Hauptteil der Handlung abspielt, könnte überall sein – aber selten hat Literatur die Wirklichkeit so schonungslos abgebildet. Die saubere Gemeinde hat einen Schandfleck – den sozialen Brennpunkt Fields – und alles dreht sich darum, ob dieser vielleicht der nächstliegenden Stadt Yarvil untergeschoben werden kann. Die Befürworter im Gemeinderat scheinen nach Fairbrothers Tod deutlich in der Mehrheit zu sein – oder reden sie nur dem „First Citizen“ nach dem Munde? Die Methadonklinik, einzige Hoffnung für manche Einwohner von Fields, schließen und das Gelände zu verkaufen – das wiederum wäre dessen Traum. Pagford soll wieder sauber werden! 

 Der Roman ist nicht einfach zu lesen. Der Stil ist anstrengend, und am Anfang fielen mir umständlicher Satzbau und verwirrende Gedankensprünge auf. Nach etwa 30 Seiten hatte ich mich aber auf diese Eigenheiten eingestellt und kam gut zurecht. Immerhin lieben Millionen von Lesern die „Schreibe“ von Rowling. Nach und nach wurde mir klar, dass ich einen wirklich großen Roman in der Hand halte – nicht nur vom Umfang her.
Zwei Umstände bewirken, dass ich nicht den Titel „Meisterwerk“ vergebe:
  1. Ein schier unüberschaubarer Pool an handelnden Personen – um die fünfzig – und dazu noch einmal halb so viele, die namentlich erwähnt werden. Sie alle muss der Leser gedanklich einordnen, und das ist eine ziemliche Zumutung. Man muss wirklich nicht jeden, der kurz durch die Szene huscht, mit Namen und Personenbeschreibung bedenken. Mich wunderte dabei, dass keine Hunde und Katzen hinzukommen – keine einzige Familie hat ein Haustier, was bei der ansonsten so realistischen Erzählweise erstaunlich ist.
  2. Zuerst schmunzelte ich bei dem Gedanken, Rowling hätte nun ein „Buch für Erwachsene“ verfasst, weil sie endlich einmal über Erektionen und Masturbation schreiben wollte. Im weiteren stellte ich jedoch fest, dass sie die realistische Sprache so weit treibt, dass Ausflüge in die Fäkalsprache und sexuell abwertende Begriffe letztendlich ziemlich häufig vorkommen. Man darf nicht zart besaitet sein, wenn man dieses Buch lesen will. Das ist schade, denn ich ahne, dass viele Leser sich davon abgestoßen fühlen werden. Ich konnte die Notwendigkeit solcher Wortwahl nicht erkennen.
Ich persönlich mag auch die leider inzwischen fest etablierte Mode nicht, ein Dutzend Handlungsstränge in den Raum zu stellen und allmählich miteinander zu verflechten. Als Autorin trete ich weder als Quizmaster noch als Gedächtnistrainer an, sondern möchte meine Leser erfreuen und unterhalten. Aber, wie gesagt, das ist meine persönliche Auffassung. Hat man sich erst einmal hineingefunden, baut sich ein professioneller Spannungsbogen auf, und man möchte einfach immer weiterlesen.
Die vielschichtigen Charaktere geben dem Roman seine besondere Tiefe; die Autorin verfügt über eine bewundernswerte Menschenkenntnis. Besonders beeindruckend sind die psychologisch meisterhaft gezeichneten Heranwachsenden. Trotz der Deklarierung „für Erwachsene“ habe ich den heimlichen Verdacht, dass Rowling beim Schreiben doch eher den jugendlichen Leser im Hinterkopf hatte – obwohl das Buch nicht jugendfrei ist. In zwei Szenen beschreibt sie übrigens „Webseiten hacken“ und „Fixen“ für Anfänger. Beängstigend realistisch und detailliert wird menschliches Elend geschildert, die Autorin ist nicht zimperlich. Das Buch ist wie das wirkliche Leben – vielschichtig und kompliziert. Literatur aber liebt einen klaren Plot, einen überschaubaren Personenkreis und eine Handlung, der man ohne Gehirnakrobatik folgen kann.
Die Protagonisten haben Persönlichkeit und Substanz, sind klar gezeichnet und treffend beschrieben. Sie werden zu guten Bekannten - man könnte sie fast liebgewinnen, wenn sie denn liebenswert wären. Als ich mich zwei Tage mit „Ein plötzlicher Todesfall“ beschäftigt hatte, verfolgten sie mich sogar bis ins Bett, und ich überlegte ernsthaft, das Buch nicht weiterzulesen. Am nächsten Tag entschied ich mich allerdings anders.

Die „sprechenden“ Namen erschienen mir, ehrlich gesagt, ein wenig kindisch. Krystal ist die Tochter einer drogensüchtigen Prostituierten. Sie war jedoch Fairbrothers Lieblingsschützling und ist tatsächlich ein ungeschliffener Edelstein. Genaugenommen ist sie, die Schlägerin und Schlampe, die einzige Figur mit Charakter. Mit Fairbrother verliert sie die einzige Person, der sie vertraut, und es kommt zur Katastrophe.
Bei einem solchen Lesestoff erwartet man kein Happy End. Trotzdem empfand ich das Ende, das die Autorin gewählt hat, als extrem unbefriedigend.
 

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