Mittwoch, 2. Mai 2012

"Friesensturm" von Birgit Böckli

Birgit Böckli Friesensturm 
 Knaur Taschenbuch 2011 ISBN 978-3-426-51022-3 - auch als Kindle ebook erhältlich

Der Berliner Kriminalkommissar Berg lässt sich, für mich nicht ganz schlüssig, nach einem traumatischen persönlichen Erlebnis auf die Nordseeinsel Spiekeroog versetzen. Alle haben ihm abgeraten, aber er hält an seinem Entschluss fest – diese psychologische Feinheit kann ich hinwiederum gut nachvollziehen.
Revierleiter Herrlich, der bisher einzige Polizist auf der Insel, empfindet die ungebetene Unterstützung, obwohl er gesundheitlich angeschlagen ist, als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten und lässt Berg überdeutlich spüren, dass er nicht willkommen ist. Nach und nach zeigt die Autorin auf, dass er nach Jahrzehnten eines Schlendrians aus Faulheit und Vertuschung durchaus Grund dazu hat.
Kaum ist Kommissar Berg im Dienst, geschieht auch schon ein Mord, und Herrlich ist deutlich überfordert. Die Kollegen vom Festland nehmen bald darauf das Ruder in die Hand, und Herrlich schwänzt als beleidigte Leberwurst den Dienst. Niemanden außer mir scheint das zu wundern. Auf dem Eiland ist wohl alles ein bisschen anders; schade dass ich Spiekeroog nicht in der Realität kenne, ich liebe das Verrückte.
Es kommt aber noch seltsamer: ein Zivilist ist die Seele der Polizeistation und hat Einblick in alle Dienstgeheimnisse – ein Unding! Dadurch wird er, wegen seines Wissens, für den Leser zum Verdächtigen. Dieser Johanssen ist zu hilfsbereit, zu nett, zu unentbehrlich – suspekter kann man gar nicht sein.
Wenn man bereit ist, diese Schrulligkeiten zu akzeptieren, oder es mit der Wirklichkeit des Polizeidienstes zugunsten von Spannung und Unterhaltung nicht so genau nimmt, ist an „Friesensturm“ nichts auszusetzen. Der Roman ist spannend, flüssig und durchaus auch schlüssig geschrieben. Er kommt ohne nervige, verwickelte Handlungsstrang-Konstruktionen aus und ist trotzdem handwerklich perfekt. Die Protagonisten sind sehr überzeugend, einfach „echt“. Auch die Polizisten haben ihre menschlichen Eigenheiten, ihre Vorgeschichten, ihre psychischen Ecken und Kanten. Die eingeschworene Gemeinschaft der Einheimischen ist schwer aufzubrechen – sehr realitätsnah!

Nicht jeder sieht das so, aber Deutschfehler trüben bei mir die Lesefreude immer beträchtlich. In dieser Hinsicht ist „Friesensturm“ einwandfrei; klare und ausdrucksvolle Sprache tun das Übrige. Birgit Böcklis Erstlingsroman ist ein gediegener, empfehlenswerter Krimi.
Die Autorin hat die norddeutsche Mentalität geschickt eingefangen. Alles Fremde wird erst einmal abgeblockt, geredet wird nur das Nötigste. Das Buch wird von überzeugenden Charakteren bevölkert – das gilt auch für die Nebenfiguren. Das macht die Handlung sehr lebendig, fast als wäre man mittendrin. Ein Roman von der Sorte, den ich früher – nebenbei Pullover strickend – in einem Zug durchgelesen hätte. Nun, im fortgeschrittenen Alter, habe ich etwas Schlaf nötig und brauchte daher zwei Tage. Ein gewichtigeres Lob habe ich nicht zu vergeben.

Der Schluss ist überraschend und wirkt ein bisschen konstruiert – vielleicht hat er die Autorin selbst überrascht? Das bleibt ihr Geheimnis.

Fazit: eine deutliche Empfehlung für Freunde des gehobenen Krimis, der ohne Ströme von Blut und Schockszenarien auskommt.

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