Joanne K. Rowling "Ein plötzlicher Todesfall"
Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2012
€ 24,90
Einleitend gestehe ich, dass ich das
Buch voreingenommen zur Hand genommen habe, denn den
Harry-Potter-Hype hatte ich keinesfalls geteilt. Und dass ich einen
575 starken Wälzer auspackte, setzte mich schon etwas in Erstaunen.
Aber Angst vor dicken Büchern kenne ich nicht, also stürzte ich
mich ins Abenteuer Lesen.
Es war kolportiert worden, „Ein
plötzlicher Todesfall“ wäre ein Kriminalroman; dass dem nicht so
ist, dämmerte mir erstmals nach etwa 100 Seiten. Der Mann, um den
sich die ganze Handlung in gewisser Weise rankt, Barry Fairbrother,
stirbt zwar mit Anfang vierzig auf den ersten Seiten, jedoch eines
natürlichen Todes. Damit hat die Autorin den einzigen „Guten“
(nur seine Frau sieht das anders – sie wirft ihm auch im Tod noch
vor, dass er sich zu viel um andere und zu wenig um sie gekümmert
hat) aus dem Weg geräumt und kann bei der naturalistischen
Schilderung ihrer Geschöpfe in die Vollen gehen.
Nach der Lektüre von „Ein
plötzlicher Todesfall“ sollte man vom Klischee „Kleinstadtidylle“
geheilt sein. Pagford, wo sich der Hauptteil der Handlung abspielt,
könnte überall sein – aber selten hat Literatur die Wirklichkeit
so schonungslos abgebildet. Die saubere Gemeinde hat einen
Schandfleck – den sozialen Brennpunkt Fields – und alles dreht
sich darum, ob dieser vielleicht der nächstliegenden Stadt Yarvil
untergeschoben werden kann. Die Befürworter im Gemeinderat scheinen
nach Fairbrothers Tod deutlich in der Mehrheit zu sein – oder reden
sie nur dem „First Citizen“ nach dem Munde? Die Methadonklinik,
einzige Hoffnung für manche Einwohner von Fields, schließen und das
Gelände zu verkaufen – das wiederum wäre dessen Traum. Pagford
soll wieder sauber werden!
Der Roman ist nicht einfach zu lesen.
Der Stil ist anstrengend, und am Anfang fielen mir umständlicher
Satzbau und verwirrende Gedankensprünge auf. Nach etwa 30 Seiten
hatte ich mich aber auf diese Eigenheiten eingestellt und kam gut
zurecht. Immerhin lieben Millionen von Lesern die „Schreibe“ von
Rowling. Nach und nach wurde mir klar, dass ich einen wirklich großen
Roman in der Hand halte – nicht nur vom Umfang her.
Zwei Umstände bewirken, dass ich nicht
den Titel „Meisterwerk“ vergebe:
- Ein schier unüberschaubarer Pool an handelnden Personen – um die fünfzig – und dazu noch einmal halb so viele, die namentlich erwähnt werden. Sie alle muss der Leser gedanklich einordnen, und das ist eine ziemliche Zumutung. Man muss wirklich nicht jeden, der kurz durch die Szene huscht, mit Namen und Personenbeschreibung bedenken. Mich wunderte dabei, dass keine Hunde und Katzen hinzukommen – keine einzige Familie hat ein Haustier, was bei der ansonsten so realistischen Erzählweise erstaunlich ist.
- Zuerst schmunzelte ich bei dem Gedanken, Rowling hätte nun ein „Buch für Erwachsene“ verfasst, weil sie endlich einmal über Erektionen und Masturbation schreiben wollte. Im weiteren stellte ich jedoch fest, dass sie die realistische Sprache so weit treibt, dass Ausflüge in die Fäkalsprache und sexuell abwertende Begriffe letztendlich ziemlich häufig vorkommen. Man darf nicht zart besaitet sein, wenn man dieses Buch lesen will. Das ist schade, denn ich ahne, dass viele Leser sich davon abgestoßen fühlen werden. Ich konnte die Notwendigkeit solcher Wortwahl nicht erkennen.
Ich persönlich mag auch die leider
inzwischen fest etablierte Mode nicht, ein Dutzend Handlungsstränge
in den Raum zu stellen und allmählich miteinander zu verflechten.
Als Autorin trete ich weder als Quizmaster noch als Gedächtnistrainer
an, sondern möchte meine Leser erfreuen und unterhalten. Aber, wie
gesagt, das ist meine persönliche Auffassung. Hat man sich erst
einmal hineingefunden, baut sich ein professioneller Spannungsbogen
auf, und man möchte einfach immer weiterlesen.
Die vielschichtigen Charaktere geben
dem Roman seine besondere Tiefe; die Autorin verfügt über eine
bewundernswerte Menschenkenntnis. Besonders beeindruckend sind die
psychologisch meisterhaft gezeichneten Heranwachsenden. Trotz der
Deklarierung „für Erwachsene“ habe ich den heimlichen Verdacht,
dass Rowling beim Schreiben doch eher den jugendlichen Leser im
Hinterkopf hatte – obwohl das Buch nicht jugendfrei ist. In zwei
Szenen beschreibt sie übrigens „Webseiten hacken“ und „Fixen“
für Anfänger. Beängstigend realistisch und detailliert wird
menschliches Elend geschildert, die Autorin ist nicht zimperlich. Das
Buch ist wie das wirkliche Leben – vielschichtig und kompliziert.
Literatur aber liebt einen klaren Plot, einen überschaubaren
Personenkreis und eine Handlung, der man ohne Gehirnakrobatik folgen
kann.
Die Protagonisten haben Persönlichkeit
und Substanz, sind klar gezeichnet und treffend beschrieben. Sie
werden zu guten Bekannten - man könnte sie fast liebgewinnen, wenn
sie denn liebenswert wären. Als ich mich zwei Tage mit „Ein
plötzlicher Todesfall“ beschäftigt hatte, verfolgten sie mich
sogar bis ins Bett, und ich überlegte ernsthaft, das Buch nicht
weiterzulesen. Am nächsten Tag entschied ich mich allerdings anders.
Die „sprechenden“ Namen erschienen
mir, ehrlich gesagt, ein wenig kindisch. Krystal ist die Tochter
einer drogensüchtigen Prostituierten. Sie war jedoch Fairbrothers
Lieblingsschützling und ist tatsächlich ein ungeschliffener
Edelstein. Genaugenommen ist sie, die Schlägerin und Schlampe, die
einzige Figur mit Charakter. Mit Fairbrother verliert sie die einzige Person, der sie vertraut, und es kommt zur Katastrophe.
Bei einem solchen Lesestoff erwartet
man kein Happy End. Trotzdem empfand ich das Ende, das die Autorin
gewählt hat, als extrem unbefriedigend.